Norbert Leser, sozialdemokratischer Querdenker, hat sich immer politischen und gesellschaftlichen Schubladisierungen entzogen. Nun hat der emeritierte erste österreichische Ordinarius für Politikwissenschaft den Schrank seiner Erinnerungen geöffnet und die eigenen Schubladen der Vergangenheit herausgezogen: Entstanden ist ein anspruchsvolles und gleichzeitig fesselndes Bild über Österreich im 20. Jahrhundert: Thomas Bernhard, Charlotte Bühler, Milovan Djilas, Heimito von Doderer, Hertha Firnberg, Friedrich Heer, Hugo von Hofmannsthal, Kardinal Franz König, Hans Kelsen, Viktor Matejka, Günther Nenning und Ernst Bloch sind nur einige der Menschen, die Norbert Leser in seinem neuen Buch auf seine eigene, sehr persönliche Art beschreibt. Aktuellstes Beispiel: der kürzlich verstorbene Otto von Habsburg.
Was kommt nicht alles zur Sprache: Austromarxismus, Monarchismus, der kalte Krieg, die Grabenkämpfe zwischen Rot und Schwarz, die Entwicklung der Unis, die Ära Kreisky, Kirche, Psychoanalyse, Brecht-Boycott, Hainburg, das Wienerlied ... Nicht zuletzt porträtiert sich der Autor selbst, denn Leser versteht seine Biografien zeitgeschichtlicher Persönlichkeiten "als einen Umweg zur Autobiografie" (so illustriert er etwa die von der Psychologin Bühler gelehrten menschlichen Entwicklungsstadien mit seinen eigenen Lebensphasen). Ob man Lesers Meinungen teilt oder nicht - diese moderne "Welt von gestern" werden alle zeitgeschichtlich Interessierten, welcher politischer und gesellschaftlicher Richtungen auch immer, mit großem Gewinn lesen. (U.R.)
Norbert Leser: Skurrile Begegnungen. Mosaike zur österreichischen Geistesgeschichte.
Mit einem Vorwort von William M. Johnston.
2011. Verlag Böhlau. Eur(A) 29.90, ISBN 978-3-205-78658-0
Kommentare
Kommentar veröffentlichen