Was in Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose" im Inferno endet, nimmt im Sachbuch von Stephen Greenblatt einen günstigen Ausgang: Die Wiederentdeckung eines subversiven und hochbrisanten Buchs aus der klassischen Antike:
Es waren die Klöster, die während des Mittelalters die großen literarischen Werke der klassischen Antike bewahrten. In schwer zugänglichen Bibliotheken überdauerten die seltenen Manuskripte vergessen oder auch verfemt die Zeiten. Ab dem 14. Jahrhundert durchsuchten die Humanisten im Gefolge von Petrarca systematisch die Klosterbibliotheken nach antiken Texten. Zahlreiche Autoren der Antike wurden bekannt und mit ihnen lange vergessene Texte und Weisheiten, die nicht zuletzt die Kirche verdammt oder unter Verschluss gehalten hatte.
Einer dieser Buch-Entdecker war Poggio Bracciolini, ein aus kleinen Verhältnissen stammender Gelehrter, der sich durch Intelligenz, Fleiss und eine bestechend schöne Handschrift zum apostolischen Sekretär des Papstes hochgearbeitet hatte. Als jener Papst Johannes XXIII. 1415 in Heidelberg abgesetzt wurde, machte sich Poggio auf Bücherjagd und entdeckte in den Klöstern des deutschen Sprachraums wie St. Gallen oder Fulda zahlreiche antike Werke, darunter 1417 Lukrez´ Werk De rerum natura, ein in seiner Botschaft bis heute hochmodern wirkendes Lehrgedicht in der philosophischen Tradition der antiken Atomisten und Epikureer. In schönstem klassischen Latein wird die Existenz von Göttern und die zentrale Bedeutung des Todes für das Leben relativiert, werden moderne Lehren der Kosmologie und Evolution vorweggenommen und weitere Kernbotschaften ausgedrückt, die bereits die heidnischen Religionen irritiert hatten und die mittelalterlichen Institutionen von Kirche und Staat schon gar nicht tolerieren konnten.
Das Wunder des Überlebens und der Wiederentdeckung dieses Werks – eine äußerlich kleine geschichtliche Anekdote, die bedeutende Umwälzungen in der europäischen Geistesgeschichte erwirkte und die Renaissance bzw. die Moderne wesentlich prägte – wird in „Die Wende“ sowohl fundiert als auch mitreissend und spannend beschrieben. Ausführlich geht der Autor Stephen Greenblatt auf die Zeitumstände des Manuskriptfundes ein, wie etwa das Konzil von Konstanz und den Verrat an Jan Hus, er beschreibt die antike Philosophie hinter dem Lukrez-Gedicht, fasst zusammen, was über den römischen Autor bekannt ist, und zeichnet die Wirkungsgeschichte nach, mit Exkursen zu Galileo Galilei, Giordano Bruno, William Shakespeare und anderen. Sehr gelungen ist auch die deutsche Übersetzung von Klaus Binder. (U.R.)
Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann.
aus dem Englischen übersetzt von Klaus Binder
Siedler Verlag 2012
ISBN 978-3-88680-848-9
Eur[A] 25.70
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