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Agfa Leverkusen von Boris Hillen



Eine humorvolle und gleichzeitig tiefgründige Geschichte zwischen Orient und Okzident, zwischen den 1970ern und der Gegenwart.

Kishone, Fotoladenbesitzer im indischen Pushkar, bricht 1977 mit seinem Freund Amitabh in den Westen auf. Ziel der wochenlangen Motorrad-Reise sind die Agfa-Werke im deutschen Leverkusen, wo Kishone die Kunst der Farbfotografie erlernen möchte. Über Afghanistan und Iran gelangen sie nach Istanbul, wo Kishone sich in die US-amerikanische Journalistin Joan verliebt, eine Campus-geschulte Feministin aus der Woodstock-Szene.

Stück für Stück erschliesst sich die Geschichte dieser ungleichen Liaison, auch im Rückblick, durch die Recherchen von Joans Tochter Saxona, die im Deutschland der Gegenwart lebt. Saxona fährt ein Vierteljahrhundert später umgekehrt mit dem Motorrad in die umgekehrte Richtung nach Indien, um ihre Herkunft zu ergründen.

Ost und West geraten in vieler Hinsicht aneinander: In Teheran feiert knapp vor der islamischen Revolution der US-Geheimdienst rauschhafte Partys. In Istanbul treffen sich Frau und Mann nachts im Hamam. Im deutschen Herbst wird Hans Martin Schleyer entführt. Die westdeutsche Linke Alternative trifft auf die DDR-Realität, europäische EsoterikerInnen mischen sich mit "echten Indern", die unter RAF nichts anderes als die britische Luftwaffe verstehen. Der Roman ist eine Liebeserklärung an die 70er, als das friedliche Nebeneinander und die glückhafte Vermischung nur eine Frage der Zeit schien (Zitat: "Wegen Religion stirbt man in den 70ern nicht mehr"), als man von Indien über Afghanistan gefahrlos nach Europa fahren konnte, als die Krankheit AIDS noch unbekannt war und als die Fotografie noch ein edles Handwerk war. Nicht zuletzt ist der Roman eine Geistergeschichte: Sehr gelungen, das Tolkien-Zitat mit dem Schwarzen (Easy-)Rider Serge. Herzlich empfohlen als Lektüre für den kommenden Sommer! (UR)


Boris Hillen: Agfa Leverkusen
Verlag S. Fischer
EUR[A]  20,60
ISBN: 978-3-10-002282-0



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