Direkt zum Hauptbereich

Alle, außer mir von Francesca Melandri



Eine Familiengeschichte von ungeheurer Wucht und höchster politischer Aktualität ist der italienische Autorin Francesca Melandri mit ihrem Roman "Alle, außer mir" gelungen: jahrelang hat sie recherchiert, umso glaubwürdiger ist dieses Buch, das einem tief unter die Haut geht und sprachlich souverän geschrieben (und übersetzt) ist.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Profeti über 3 Generationen. Im Mittelpunkt Attilio Profeti: dem Glückspilz gelingt, so scheint es, alles im Leben, selbst ein Doppelleben mit Geliebter und Sohn, auf das seine Ehefrau und die 3 Kinder erst zufällig nach vielen Jahren stoßen und sich damit arrangiert haben. Doch eines Tages steht ein junger Äthiopier vor der Tür von Profetis Tochter Ilaria und behauptet, ihr Neffe zu sein. Der Vater Attilio ist inzwischen alt und schwer dement, und Ilaria versucht, gemeinsam mit ihrem Halbbruder, die Geschichte und das Schicksal des jungen Flüchtlings zu ergründen und herauszufinden, was ihr Vater während des Krieges in den damaligen italienischen Kolonien gemacht hat - geredet wurde darüber nie. Hatte Attilio wie so viele italienische Soldaten schon damals ein Kind in Afrika? Wie war seine Einstellung zu den Greueln, die die Italiener im damaligen Königreich Abessinien verantworteten?

Man erfährt in diesem Buch nicht nur mehr Details über die grausame Kolonialpolitik Italiens in Ostafrika und Libyen als einem manchmal lieb ist - der Roman schlägt auch einen Bogen zu den Flüchtlingsströmen unserer Zeit und verknüpft die Geschichte des italienischen Faschismus unter Mussolini und der italienischen Gesellschaft des 20.Jahrhunderts mit den heutigen Problemen Italiens, vom Flüchtlingsansturm bis zur allgegenwärtigen Korruption. Melandri verwebt all diese Erzählstränge zu einem beeindruckenden Roman mit vielen Rückblenden, die nach und nach die Geschichte Attilia Profetis und seiner verzweigten Familie ergeben.

Eine große Empfehlung, wenn man gerne Zeitgeschichte durch einen großartig erzählten Roman näher gebracht bekommt.

S.R. 

Francesca Melandri: Alle, außer mir
Verlag: Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-3296-3 
Eur [A] 26,80

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Sing, wilder Vogel, sing von Jacqueline O´Mahony

  Ein Schmöker definiert sich als ein dickerer, inhaltlich weniger anspruchsvoller, aber zugleich fesselnder Roman. Und dieses Buch liest sich ebenfalls wie ein kleiner Schmöker, jedoch mit dem Unterschied, daß es nicht nur spannend ist, zugleich aber ein anspruchsvolles geschichtsträchtiges Thema zum Inhalt hat. Es geht um die Hungersnot 1849 in Irland, ausgelöst durch die Kartoffelfäule und die Landvertreibung des irischen Volkes  durch die englischen Grundherren. Dem irischen Mädchen Honora wird im Leben nichts geschenkt. Von Kind an auf sich allein gestellt und ausgegrenzt, wächst sie in Armut auf. Um nicht zugrunde zu gehen, fährt sie als blinder Passagier mit einem Schiff nach Amerika, wo sie vom Regen in die Traufe kommt, und unter sklavenartigen Umständen als Zimmermädchen schuften muß. Mit ihrer Kollegin flieht sie in den Westen. Dort steckt man sie in ein Bordell, wo sie wie e...

Jeder weiss, dass deine Mutter eine Hexe ist von Rivka Galchen

  In „Jeder weiss, dass deine Mutter eine Hexe ist“ erzählt die Autorin Rivka Galchen von dem historisch belegten Hexenprozess (1615-21) aus der Perspektive der angeklagten Katharina Kepler - der Mutter des Astronomen Johannes Kepler - gemischt mit Dokumenten, Zeugenbefragungen und dem Bericht eines hilfreichen Nachbarn. Über fünf Jahre lang musste sich Katharina Kepler aus Leonberg gegen den Vorwurf verteidigen, sie sei eine Hexe. Zu den damaligen Zeiten war das kein leichter Vorwurf, allein in Europa wurden zu diesen Zeiten mehrere zehntausend Menschen als Hexe zu Tode verurteilt; die meisten von ihnen waren Frauen wie die Keplerin, eigensinnig, scharfzügig und beschlagen in Heilkräuterkunde. Der Prozess nimmt Fahrt auf, als eine Bekannte aus dem Ort, die Glasersfrau Ursula Reinhold, die Keplerin beschuldigt, sie mit einem Hexentrunk vergiftet zu haben. Die Folgen davon sollen sein: Schmerzen und Unfruchtbarkeit. Katharina beschließt, was nur jemand kann, der furchtlos ist: sie ...

Die Reise nach Laredo von Arno Geiger

Karl V. hat lange über ein schier unermessliches Reich geherrscht. Doch nun hat er der Machtpolitik den Rücken gekehrt und sich in ein abgeschiedenes Kloster im spanischen Yuste zurückgezogen. Von seinen Hofschranzen können es manche gar nicht erwarten, ihren abgedankten, fettleibigen und kranken König tot zu sehen, um nur rasch aus dem kleinen Nest wegzukommen. Da ist aber noch der elfjährige, von seiner Mutter getrennte Geronimo, der nicht weiß, dass er ein leiblicher, illegitimer Sohn Karls ist (später wird er unter dem Namen Don Juan d'Austria berühmt sein). Greife, die prächtigen Fabelwesen, haben es ihm angetan, und in Karls Wohnung hängt ein Wandteppich mit einem Greif: "Sieh ihn dir an, wenn ich tot bin.", sagt er dem Kind. Ob das am Ende in Erfüllung gehen wird?  Noch ganz andere Dinge scheinen plötzlich in Erfüllung zu gehen: ein Ausbruch Karls aus seinem Totenbett, eine lange Reise mit seinem Sohn durch Spanien ans Meer, auf der sich seltsame Dinge ereignen, au...