Man nehme ein kleines feines Team an expeditionserprobten Menschen,
eine der abgelegensten Gegenden der Welt und ein kaum
aufzuspürendes, nur mehr in wenigen Exemplaren existierendes Tier.
Ergibt eine Reise in die einsame Stille der Bergwelt Tibets. Kommt
Ihnen so ein Plot bekannt vor? Literatur dieser Art gibt es schon
zur Genüge, meinen Sie?
"Der Schneeleopard" wird Sie eines Besseren belehren.
In einer unnachahmlichen klaren und trockenen Sprache erzählt der
Franzose Sylvain Tesson von seiner Reise mit dem Naturfotografen
Vincent Munier, um eines der seltensten Tiere der Erde vor die
Kamera zu bekommen. Ob die Suche erfolgreich sein wird, ist von
Anfang an ungewiss. Die Strapazen des Reisens und Campierens, das
Wandern mit schwerem Gepäck, der Aufenthalt in über 5000 m Höhe bei
eisigen Temperaturen, das stundenlange reglose geduldige Beobachten,
all das muss man wollen und aushalten können. Dies wird mit wenigen
Worten, dafür umso eindringlicher, beschrieben. Fernab der
Zivilisation stellt der Autor prinzipielle Fragen über die Bedeutung
und Schönheit der ungebändigten Natur und über deren Gefährdung und
Bedrohung, vornehmlich durch den Menschen. Und natürlich sind diese
Fragen untrennbar verbunden mit dem Hinterfragen des eigenen
Daseins.
Bücher über die Hektik des Alltags und die Wichtigkeit von Natur und
Entschleunigung gibt es mittlerweile sonder Zahl. Selten findet man
eines mit solch klar ausgesprochenen und unglaublich treffenden
Aussagen. Frei von jeglichem Geschwafel bringt Tesson auf den Punkt,
was ihn berührt und was ihm wichtig ist. Er skizziert
Tierbeobachtungen so, dass man meint, dabeizusein. Er beschreibt
knapp und präzise das Leben der tibetischen Bauern, genauso wie die
Stimmungen seiner Mitreisenden. Er schreibt über Bedeutendes der
Menschheitsgeschichte und gleichzeitig über die Wichtigkeit der
archaischen Natur. Und man folgt ihm gerne.
"Der Schneeleopard" war das erfolgreichste französische Buch 2019
und das mit gutem Grund. Auch die hervorragende Übersetzung von
Nicola Denis hat ihren Anteil an diesem eindrücklichen und lange
nachschwingenden Leseerlebnis.
S.R. , Mai 2021
Kommentare
Kommentar veröffentlichen